Die Schleppbahnen der Glasfabrik Stölzle in Altnagelberg (1900-1991)

  • Nachdem das Rätsel "Wo und Was?" gelöst ist, hier das versprochene Stück Eisenbahngeschichte.

    Der Bau der AG der Nieder-Österreichischen Waldviertelbahnen wurde per kaiserlicher Konzession 1898 genehmigt, die Eröffnung erfolgte am 3. Juli 1900. Aktionär war unter anderen Waldviertler Industriellen auch der Präsident der „C. Stölzle’s Söhne Actiengesellschaft für Glasfabrication“, Ludwig Stölzle, der Betreiber der Glashütten in Alt-Nagelberg, Neu-Nagelberg, Suchenthal, Josefsthal, Sofienswald, Eugenia, Eilfang, Gutenbrunn, Chlumetz und Georgenthal. Er war sich der Bedeutung des Bahntransportes von zur Glasfabrikation benötigter Materialien sowie des Abtransports der Glaswaren bewußt.

    Aus diesem Grund bestand seit Eröffnung der Schmalspurbahn eine Schleppgleisanlage, die vom Gleis 4 des Bahnhofes Alt-Nagelberg in einem Bogen abzweigte. Das Gleis überquerte den Gamsbach mittels eines kleinen Brückenbauwerks, und die Landesstraße nach Litschau im Niveau, um das Gelände der Glasfabrik zu erreichen. Im Fabriksgelände lagen zwei Gleise, die nach einer zum Umsetzen verwendeten Gleisverbindung stumpf endeten (siehe Pläne aus 1933[1] und 1936 [2]).

    Im Zuge eines ab ungefähr Mitte der Sechziger Jahre geplanten Ausbaus der innerbetrieblichen Logistik wurde der Umbau der vorhandenen Gleisanlage erforderlich, weswegen gegen Ende des Jahrzehnts eine komplette Neulage mit deutlicher Erweiterung erfolgte. Nunmehr zweigte die Anschlußbahn etwa 100 Meter vor der Einfahrt in den Bahnhof Alt-Nagelberg auf offener Strecke ab, gesichert durch eine Schutzweiche, und umging das Fabriksgelände im Süden (siehe Bilder vom August 1971 [4], und vom Mai 1984 [3]). Der bestehende Rest der alten Schleppbahnanlage wurde mittels Spitzkehre an den Neubau angebunden (siehe Plan 1970 (in [1]). Das Bild von Benes, April 2003 (in [1]), zeigt die Weiche der Spitzkehre, wobei der starke Bewuchs eher an ein Gleis im Urwald erinnert.

    Genutzt wurde die Schleppbahn der Stölzle AG zum einen für die Versendung der Erzeugnisse, anderseits erfolgte darüber auch die Rohstoff- und Energieversorgung (u.a. in [5]; hochwertiger Quarzsand, Säuren; in den Sechziger und Siebzigerjahren wurde komprimiertes Flüssiggas in vierachsigen Druckgastanks angeliefert). Die Gasversorgung des Werks wurde ab 1980 durch eine Erdgaspipeline durchgeführt, wodurch ein eklatanter Rückgang des Transportaufkommens verursacht wurde.

    Dem Vernehmen nach wurde die Anschlußbahn bis etwa 1987/88 genutzt, der Ausbau der AB-Weiche erfolgte durch die ÖBB Ende August 1991 (das im Buch von Schiendl [4] erwähnte Abbaudatum 1992 kann meiner Meinung nach nicht stimmen, da bei einem Besuch im Herbst 1991 die Weiche nicht mehr vorhanden war).

    Nach dem Konkurs der AG in 1988 erfolgte sicherlich keine Bedienung mehr, die Nachfolge-GmbH bediente sich ausschließlich des Straßengüterverkehrs, bis auch sie 2001 in Folge von 9/11 vor Weihnachten in die Insolvenz schlitterte (kurioserweise im ersten seit dreißig Jahren, in dem sie wieder operativ schwarze Zahlen schreiben sollte!).

    Die Gleisanlagen der Schleppbahn wurden nach 1997 schrittweise abgebaut, allerdings liegen noch einige Überreste unter dem mittlerweile dichten Bewuchs. Sie legen Zeugnis ab von einer nicht unbedingt besseren, aber zumindest aus eisenbahnfreundlicher Sicht schienenverkehrsfreundlicheren Zeitspanne.

    Es gibt nur wenig Literatur über diese Anschlußbahn, hier eine Auswahl von Zitaten:
    [1] Just, Karel: Na úzkém rozchodu v Jindřichově Hradci a Gmündu, Litoměřice (2004)
    [2] Österr. Staatsarchiv, entnommen aus: Klenner, Markus: Diplomarbeit am Inst. f. Geschichte der Univ. Wien (1994)
    [3] James Waites Seiten "Narrow Gauge Heaven"
    [4] Schiendl, Werner: Die Waldviertler Schmalspurbahn, Wien (2010)
    [5] Brommer, Erwin: Die Geschichte der österreichischen Glasindustrie nach 1945 bis 1994; hg. v. Fachverband der Glasindustrie, Wien (2. erw. Aufl., 1994) überarbeitete, erweiterte und im statistischen Anhang bis 1993 herangeführte Fassung [Datum 1. Auflage unbekannt])

  • Herzlichen Dank für die sehr interessanten Informationen über diese ehemalige Schmalspur-Anschlußbahn.

    mfg
    1042erfreak

  • Von meiner Seite aus ebenfalls herzlichen Dank für Deinen Bericht in Wort, Plan und Bild. Solltest Du weitere solcher Schätze auf Lager haben, nur her damit. Bitte!

    dr. bahnsinn

    dr. bahnsinn - der Forendoktor

  • [quote author=dr. bahnsinn link=topic=19907.msg130631#msg130631 date=1288603881]
    Von meiner Seite aus ebenfalls herzlichen Dank für Deinen Bericht in Wort, Plan und Bild. Solltest Du weitere solcher Schätze auf Lager haben, nur her damit. Bitte!

    dr. bahnsinn

    [/quote]

    Kommt schon noch - muss erst noch einiges an Material wälzen (und außerdem habe ich auch noch einen Beruf ;D)

    Alois

  • [quote author=1042erfreak link=topic=19907.msg130625#msg130625 date=1288594005]
    Herzlichen Dank für die sehr interessanten Informationen über diese ehemalige Schmalspur-Anschlußbahn.
    mfg
    1042erfreak[/quote]

    Gerne geschehen.
    Leider habe ich meine Modellbahnambitionen seit mittlerweile Jahrzehnten eingestellt, aber da könnt' ich mir sogar ein klein's Dioramerl vorstellen (viel braucht's ja nicht dazu, und wenn man die Zeit nach 1988 hernimmt, kommt man auch ohne Fahrzeuge aus :-))

    Alois