Gestern vor 160 Jahren, am 15. 5. 1854 wurde auf der Semmeringbahn zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag der Güterverkehr aufgenommen. Der Personenverkehr folgte am 17. 7. 1854.
Ich glaube, es hieße Eulen nach Athen tragen, würde ich hier ausführlich über die Geschichte der Semmeringbahn schreiben. Stattdessen will ich daher die Geschichte von einem Sonderling nacherzählen, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts monatelang zwischen Mürzzuschlag und Gloggnitz hin- und hergefahren sein soll. Die Erzählung stammt von einem bekannten Schriftsteller und wurde unter dem Titel "Unser lieber Semmering" veröffentlicht:
"Der schönen Kellnerin in dem Mürzzuschlager Gasthof, wo er wohnte, war der Mann unheimlich, erstens, weil er eine fremde Sprache redete, die sie nicht verstand, und zweitens, weil er immer einen Revolver bei sich hatte. Der Wirtssohn, der Englisch sprach, stellte den Fremdling der Waffe wegen zur Rede, und dem antwortete er gelassen, man sei auf der Reise, um sich irgendwo zu verlieben oder zu erschießen.
Einstweilen mache ihm das Semmeringgebierge Spaß. Das bereiste er jeden Tag im bequemen Wagengelaß. Er fuhr an den Wänden hin am Morgen, wenn draußen über der fernen Ebene das weiße Nebelmeer lag und darüber die große rote Sonne aufstieg.
Er fuhr zu Mittag, wenn die lichten Sommerwolken in die Schluchten leuchteten und wieder Schattengestalten hinglitten über Berg und Tal.
Er fuhr des Abends, wenn auf den Hochzinnen die Glut lag, dann die Berge schwarz in den blassen Himmel hineinstanden und in den Tälern die Lichter der Ortschaften sich entwickelten.
Er fuhr in der Nacht, wenn über dem Sonnwendstein der Mond stand und das ganze Gebirge mit einem zarten, glitzernden Schleier übergoß.
Als der Herbst kam, beobachtete er die rotgewordenen Buchen- und die gelbgewordenen Lärchenbestände und den silbernen Reif am Rande der Wälder. In der klaren Luft leuchtete von der Rax jede Felstafel auf ihn herab, und die Leute, so auf dem Scheitel des Sonnwendsteins standen, sah er mit freiem Auge.
Und als der Winter da war, fuhr der Mann noch immer auf dem Semmering hin und her im Spinnen des grauen Nebels, im Schneetreiben der sausenden Stürme und im blendenden Flimmern der sonnigen Schneefelder.
Zwischen allem dahin trug ihn der Eisenbahnzug mit der gleichen ruhigen Sicherheit, und immer und überall entdeckte er auf seiner abenteuerlichen Straße neue Lichteffekte, Schattenspiele und landschaftliche Punkte, die ihn anzogen.
Die Naturfreude war ihm aufgegangen, und zur Frühjahrszeit, als er endlich abgereist, hatte er im Gasthof den Revolver vergessen, hingegen die schöne Kellnerin mitgenommen."
Ich glaube, die Geschichte erzählt sehr gut das, was ein Reisender (auch heute noch) erlebt, wenn er sehenden Auges die Semmeringbahn bereist. Mir geht es jedenfalls so.
Zum Schluss noch eine kleine Rätselfrage: Wer ist der Autor dieser Erzählung?