Rhätische Bahn - Trotz allen Schattenseiten – hier ist Lokführer noch ein Traumberuf

  • Ein netter Bericht über die Rhätische Bahn., aus der Sicht des Lokführers, steht in der Neuen Züricher Zeitung....:



    Die Rhätische Bahn versucht bei der Personalsuche mit dem Blick aus dem Führerstand zu punkten – im Bild die Strecke zwischen Lavin und Scoul-Tarasp . (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

    Trotz allen Schattenseiten – hier ist Lokführer noch ein Traumberuf
    Personalmangel, Stress, Überlastung: Der Beruf des Lokomotivführers gilt als weniger attraktiv denn einst. Unterwegs mit einem, für den bei der Rhätischen Bahn dennoch ein Bubentraum wahr geworden ist.
    Tobias Gafafer 21.11.2019, 05:30 Uhr
    https://www.nzz.ch/schweiz/lokomotivfuehrer-eine-fahrt-im-fuehrerstand-der-rhaetischen-bahn-ld.1521874#
    11.42 Uhr. Bahnhof Landquart. Wenn Fabio Peng wählen könnte, würde er mit der Arbeit immer spät beginnen. Der Lokführer der Rhätischen Bahn (RhB) wartet am Perron, als sein erster Zug des Tages auf Gleis 6 einfährt. Es reicht für einen Schwatz mit dem Kollegen, dessen Frühdienst endet. Um 11.51 Uhr steht das Signal auf Grün. Peng mag die Fahrt über Scuol-Tarasp nach Pontresina, für die er eingeteilt ist. Der Bündner setzt den Regio-Express 1237 in Bewegung, prüft die Bremsen und beschleunigt. Dichter Nebel verdeckt den Vilan oberhalb des Weinbaudorfs Malans. In flottem Tempo passiert der Zug die Klus und fährt durchs Prättigau.

    Nicht immer beginnen Pengs Tage so entspannt. Regelmässig muss er vor 4 Uhr aufstehen, um einen der Frühzüge zu führen, die Lebensmittel und die Post ins Engadin bringen. «Gerade im Winter ist die erste Fahrt ein spezielles Gefühl.» Der Lokführer müsse die Strecke kontrollieren und rechtzeitig anhalten können, falls vor ihm ein Hindernis liege. Unregelmässige Arbeitszeiten gehören zum Beruf – und doch hat sich der 30-Jährige nie ganz an die Frühdienste gewöhnt.

    Tausende fahren mit
    Peng ist der wohl bekannteste Lokführer der Schweiz, zumindest auf dem Internetdienst Twitter. Regelmässig veröffentlicht er als «Calanda Mountain» Fotos von seinen Fahrten. Die Aufnahmen zeigen die Schönheit Graubündens im Spiegel der Jahreszeiten. Peng verwendet dafür ein Stativ und lässt die Kamera laufen, um nicht abgelenkt zu werden. Manchmal ist ein Schnappschuss bloss für Ferrophile darunter. Meist aber spricht er ein breites Publikum an. Tausende folgen ihm inzwischen und loben die Bilder aus dem Führerstand. «Sie haben einen der schönsten Arbeitsplätze Europas», schrieb ein Nutzer aus Deutschland.

    12.19 Uhr. Saas. Nicht nur auf Twitter ist der Blick aus dem Führerstand beeindruckend. Die Kirche des Prättigauer Dorfes ist bereits von weitem zu sehen. Es ist Zwischensaison, bloss eine Person steigt zu, und das Restaurant «Bahnhöfli» hat Betriebsferien. Der November mit den tieferen Frequenzen ist für den Lokführer ein angenehmer Monat. Er ist leicht vorzeitig unterwegs.

    In der Hauptsaison aber, wenn viele Sportler und Gruppen reisen, wird es oft schwierig, den immer dichteren Fahrplan einzuhalten. Kurz vor Peng fährt der Regio-Express nach Davos, in Klosters folgen innert weniger Minuten zwei Kreuzungen. Auf dem grösstenteils einspurigen Streckennetz bringen Verspätungen den Betrieb rasch durcheinander.

    Unbefugter im Tunnel
    12.35 Uhr. Klosters Selfranga. Der Zug 1237 donnert in den 19 Kilometer langen Vereinatunnel. In der Ferne kommen die Lichter eines Zuges entgegen. Peng beleuchtet kurz den Führerstand und grüsst den Kollegen. Die vor zwanzig Jahren eröffnete Verbindung ins Unterengadin ist ein Erfolg. Die steigenden Frequenzen, namentlich im Autoverlad, bringen die Bahn aber an ihre Kapazitätsgrenze. Zu Spitzenzeiten fahren gleichzeitig drei Autozüge.


    Lokführer Fabio Peng montiert das iPad mit dem Fahrplan. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)


    Auf dem Netz der Rhätischen Bahn gibt es 115 Tunnels. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

    Peng mag die Tagesdienste im Vereina nicht besonders. «Das Pendeln zwischen den Tunnelportalen ist monoton.» Manche Autofahrer reagierten aggressiv, wenn es zu Wartezeiten komme. Andere vergässen, die Handbremse anzuziehen, was den Verlad beeinträchtige. Einmal verirrte sich zudem ein Betrunkener in die Röhre. Dank Kameras konnte die Betriebszentrale Peng rechtzeitig warnen. Doch es gibt Angenehmeres, als im Tunnel anzuhalten und sich um eine alkoholisierte Person zu kümmern.

    Ohnehin gilt der Lokführerberuf als weniger attraktiver denn einst. Bei den SBB ist die Lage ernst. Im Herbst liessen sie auf einer Nebenstrecke Züge ausfallen, weil das Personal anderswo benötigt wurde. In den nächsten Jahren fehlen ihnen rund tausend neue Lokführer. Gewerkschafter klagen über die hohe Belastung und Überstunden, die nicht eingezogen werden können. Bahnchefs, die von selbstfahrenden Zügen schwärmen, erleichtern die Rekrutierung nicht. Die RhB hat zwar keinen Unterbestand und liess noch nie Züge ausfallen. Doch die Personaldecke ist ebenfalls dünn. Pensionierungen stehen bevor, der Bedarf nimmt zu, und die Bahnen werben sich gegenseitig Lokführer ab. Teilweise müssen Letztgenannte auf Freitage verzichten.

    Auf Effizienz getrimmt
    12.51 Uhr. Sagliains. Der Zug verlässt den Vereinatunnel und fährt in den Umsteigebahnhof ein. Langsam zeigt sich die Sonne. Das frisch verschneite Unterengadin wirkt an diesem Tag wie eine Märchenlandschaft. Die Bündner Bahn wirbt mit der «atemberaubenden Kulisse», die der Beruf biete. Trotz Schattenseiten hat Peng seinen Traumjob gefunden. Die Technik faszinierte ihn früh. Als die RhB Lokführer suchte, liess sich der Zugbegleiter, der auch Privatpilot ist, vor einigen Jahren umschulen. Er ist im Führerstand gerne für zwei Stunden allein.


    Meist sitzt der Lokführer fast den ganzen Tag alleine im Führerstand. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)



    Das Engadin ist frisch verschneit. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

    13.13 Uhr. Scuol-Tarasp, Endstation von Zug 1237. Für Peng gibt es keine Pause: Er muss drei Güterwagen für die Grossverteiler Coop und Volg an den Regio-Express nach Landquart manövrieren, der um 13.37 Uhr abfahren soll. «Vier, zwei, eins», gibt ihm der Rangierarbeiter über Funk durch, bis die Puffer aufeinanderprallen. Dem Lokführer bleibt wenig Zeit, um in den Steuerwagen des Zuges 1941 zu wechseln, den er um 13.34 Uhr nach Samedan führen soll. Und da folgt bereits die Lautsprecherdurchsage: «Allegra, willkommen in der Rhätischen Bahn.»

    Im Schritttempo durchfährt der Lokführer einen Tunnel. Trotz einer langen Totalsperre ist die Sanierung der Strecke nach Lavin nicht abgeschlossen. Noch nie sei auf dem Bahnnetz so viel gebaut worden wie in diesem Jahr, sagt Peng. Das Personal steht damit zusätzlich unter Druck. Hinzu kommen Nachteinsätze mit Bauzügen, die nicht zu den bevorzugten Diensten des Bündners zählen.

    Kampf mit der Technik
    14.07 Uhr. Zernez. Zwei Zugbegleiterinnen steigen zu. Nun folgt der spektakulärste Abschnitt der Strecke mit vielen Kunstbauten. Zwischen zwei Tunnels hält Peng vergeblich nach einer toten Gemse Ausschau, die im Tobel liegen soll. Im Vergleich zur Lokomotive am anderen Endes des Zuges herrscht im Steuerwagen eine fast gespenstische Ruhe. Nur beim Waffenplatz S-chanf wird diese kurz von Gewehrfeuer unterbrochen.
    14.42 Uhr. Samedan. Nach der Ankunft hat Peng knapp eine Stunde Pause, bevor er den nächsten Zug übernimmt. Das Restaurant «Terminus» gegenüber dem Bahnhof ist geschlossen. In einem Café im Dorf gibt es bis 15 Uhr das Tagesmenu, Schweinsschnitzel nach Engadiner Art mit Pommes frites. Bei knappem Personalbestand arbeitet Peng auch einmal eine Woche ab dem Depot Samedan, fernab von seinem Wohnort.


    Der Regionalzug aus Scuol-Tarasp verlässt Zuoz. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)



    In Pontresina beträgt die Wendezeit des Zuges nur wenige Minuten. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)


    15.48 Uhr. Weiterfahrt nach Pontresina. Die Aussicht auf die Gipfel der Berninagruppe ist spektakulär. Doch Peng kämpft mit der Technik. Bei Punt Muragl ertönt ein Warnsignal: «Störung», heisst es auf dem Bildschirm, bevor der Zug mit einem Nothalt zum Stehen kommt. Nicht zum ersten Mal sorgen die neuen Steuerwagen für Probleme. Der Reset gelingt – und doch sind die Zwischenfälle fürs Personal unangenehm. Mit der Elektronik hat sich die Belastung von der körperlichen auf eine mentale Ebene verschoben. Ältere Lokführer bevorzugen die «700er», die zuverlässigen Schnellzuglokomotiven aus den sechziger Jahren, intern auch «alte Damen» genannt.

    15.54 Uhr. Pontresina. Der Bahnhof liegt im Schatten, am Perron warten bereits Reisende aus dem Puschlav. Mit Ausnahme der Berninastrecke befährt Peng das ganze RhB-Netz, von St. Moritz bis Disentis. Tagesdienste nach Poschiavo und Tirano sind von Landquart aus kaum machbar. Trotzdem ist die Arbeit abwechslungsreich. Im Gegensatz zu anderen Bahnen führen die Bündner Lokführer alle Zuggattungen, vom Glacier-Express über Güterzüge bis zur Churer S-Bahn. Dank der Vielfalt erhält die RhB spontane Bewerbungen. Mit der Totalerneuerung der Flotte wird diese allerdings abnehmen.

    Rehe auf den Geleisen
    16.01 Uhr. Parallel zum Bummler nach St. Moritz verlässt der Regionalzug 1956 Pontresina. Auf der Fahrt in den Feierabend folgt die nächste Störung; in Samedan fällt der Strom aus. Peng bewahrt die Ruhe. Beim zweiten Versuch gelingt es, die Lokomotive wieder hochzufahren. Weniger Glück haben später zwei Kollegen, wie er über den Betriebsfunk erfährt: Ihre Züge kommen in Bever zum Stehen.


    Der Bahnfahrplan ist immer dichter geworden. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)



    Beim Südportal des Vereinatunnels wartet bereits ein Anschlusszug. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

    16.56 Uhr. Susch. Peng grüsst den Lokführer des Gegenzuges, einen Kollegen, der als Übersetzer auf der Schweizer Botschaft in Peking gearbeitet habe. Bei der RhB kennt sich das Personal noch. Auch wenn ältere Angestellte sagen, das Betriebsklima sei nicht mehr so familiär wie früher, weil die Bahn stark gewachsen sei. Die Sonne ist untergegangen, die blaue Stunde beginnt. Peng muss nun besonders auf das Wild achten. Im Winter kommt es abends von höheren Lagen herunter und benutzt das Bahntrassee, das vom Schnee geräumt ist. Mit einem Pfiff warnt der Lokführer vor Ardez zwei Rehe, die im letzten Moment die Geleise überqueren.

    17.23 Uhr. Scuol-Tarasp. Das Thermometer zeigt minus drei Grad. Es wird Zeit, die Rückfahrt anzutreten. Pengs letzter Zug des Tages, der Regio-Express 1260 nach Landquart, steht zur Abfahrt um 17.41 Uhr bereit. Es ist ein klarer Abend, und in der Ferne leuchtet das Schloss Tarasp. Mit 80 Kilometern pro Stunde geht es zum Vereina-Tunnel. Im Prättigau ist es bereits stockdunkel. Als Peng um 19.11 Uhr in Landquart einfährt, ist sein Dienst noch nicht beendet: Erst in Chur übergibt er den Zug zur Weiterfahrt nach Disentis. Für diesen Tag ist er genug gefahren. Schon bald aber wird er wieder im Führerstand sitzen – und die Twitter-Gemeinde mit Winterbildern begeistern.


    Im Winter ist von den Lokführern besondere Aufmerksamkeit gefragt. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)